Runder Tisch Gesundheit

Der Runde Tisch Gesundheit Tübingen (RTG) ist ein Zusammenschluss von Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen, die sich mit Gesundheitsfragen von Geflüchteten und Migranten beschäftigen.

Wie er begann ….

Er ging in 2016 aus einer Initiative in der Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Tübingen (UKT) hervor. Anlass war die wachsende Zahl von Patienten, die weder Deutsch noch Englisch sprechen, darunter auch viele Geflüchtete. Durch das Projekt „Gleichberechtigte Patientenkommunikation“ sollten zunächst das Klinikpersonal und Studierende der Medizin mit Migrationshintergrund auch als Dolmetscherinnen und Dolmetscher für Landsleute eingesetzt werden.

Das Vorhaben begann mit einer 50-Prozent-Stelle „Beauftragte für gleichberechtigte Patientenkommunikation“. Als erstes entstand ein Dolmetscher-Pool von knapp 60 Studierenden der Medizin. Später  folgte – in Zusammenarbeit mit der Stadt Tübingen und dem Landkreis – ein Dolmetscher-Pool mit ehrenamtliche Personen ohne medizinischen Hintergrund, die ebenfalls eine nachgefragte Sprache beherrschen. Sie wurden in einer zweitägigen Schulung auf ihren Einsatz vorbereitet.

Gleichzeitig, so berichtet der Chronist des UKT, setzte die wissenschaftliche Begleitung zum Thema „Die Triade Mediziner – Dolmetscher – Patient in interkulturellen Beratungs- und Behandlungsgesprächen“ ein.

Als dritte Säule des Projekts „Gleichberechtigte Patientenkommunikation“ war sehr schnell das Videodolmetschen im Gespräch, zunächst für Notfälle.

Parallel verabredeten sich Tübinger Akteure im Gesundheitswesen und Ehrenamtliche aus den Unterstützerkreisen für geflüchtete Menschen zu einem Runden Tisch Gesundheit (RTG). Der RTG wird vor allem von Hauptamtlichen getragen, die ein starkes Interesse daran haben, sich dort auszutauschen. Auch die Ehrenamtlichen – Durchschnittsalter 60+ – haben durchweg einen fachlichen Hintergrund als Arzt/Ärztin, manche waren während ihrer beruflichen Tätigkeit im Pflegebereich beschäftigt.

Was er macht ….

Themenschwerpunkte

1. Verständigungsprobleme in medizinischen Behandlungs- und Beratungssituationen

Von Anfang an bildeten die Sprachbarrieren zwischen Arzt und Patient den Themenschwerpunkt. Nach den Problemanzeigen im Klinikbereich rückten die gleichen Probleme nach und nach auch in den Praxen der niedergelassenen Ärzteschaft in den Vordergrund.  Als 2017 unerwartet mehr Flüchtlinge mit unklaren Beschwerden in die Praxen strömten, eine gründliche Abklärung jedoch an der Verständigung zu scheitern drohte, erreichte die Nachfrage nach versierten Dolmetscher*innen ihren vorläufigen Höhepunkt. Der größte Dolmetscher-Pool der Region, die Caritas, zeigte sich schnell außer Stande, den Bedarf zu bedienen, zumal sich ihre wirtschaftliche Lage verschlechtert hatte. Das Landratsamt Tübingen (LRA) stellte seinerseits den wachsenden Übersetzungsbedarf in Frage und empfahl stattdessen, die Kinder oder Freunde bzw. Bekannte der Patient*innen als sogenannte Sprachmittler*innen in die Behandlungssituation unentgeltlich  hineinzunehmen. Bezahlte Übersetzungsleistungen durch geschulte Kräfte sollten nur noch einmal pro Patient und Arzt gewährt werden, nur in Ausnahmefällen auch öfter. Daraus entwickelte sich eine engagierte Auseinandersetzung zwischen dem am RTG beteiligten medizinischen Fachpersonal, Vertretern mehrerer Beratungsstellen, den Ehrenamtlichen und dem LRA. Die Gangart des LRA, hinter der sich letztlich eine Lücke im Sozialgesetz abbildet, hat sich inzwischen insoweit leicht gelockert, als nach neuerer Auskunft nunmehr drei bezahlte Dolmetschereinsätze pro Patient und Arzt  gewährt werden. Belastbare Informationen haben den RTG jedoch offiziell nicht erreicht. Und selbst dieses Zugeständnis deckt nicht den Bedarf.

2. Trauma als Ergebnis essentieller Fluchterfahrung       

Im Kontext der Debatte über den Übersetzungsbedarf in gesundheitlichen und psychosozialen Behandlungssituationen hat der RTG geltend gemacht, dass hinter vielen unklaren physischen Beschwerden der Geflüchteten traumatische Erfahrungen vor und/oder während der Flucht stecken können. Traumata von Geflüchteten und ihre Behandlungsmöglichkeiten stellen inzwischen den zweiten Themenschwerpunkt der RTG-Treffen dar. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie hat sich eine Ambulanz entwickelt, die sich durch Flucht traumatisierter Jugendlichen annimmt. Die daran beteiligten Therapeut*innen arbeiten am RTG mit und berichten vor allem über die Fortschritte des Projekts. Der RTG ist außerdem mit refugio e.V. in Kontakt.

Der RTG fördert den Erfahrungsaustausch der Beteiligten am Runden Tisch, die Kontaktaufnahme zu und Vernetzung mit den in Frage kommenden Fachstellen sowie die Verbesserung der Versorgungsstrukturen durch Aufzeigen der Problemstellen.

Auf eine zeitnahe Schließung drängt  aktuell die therapeutische Lücke für traumatisierte Kinder, denn diesen Bereich kann weder die Kinder- und Jugendlichen-Ambulanz noch refugio abdecken. Tübingen, Rottenburg und Reutlingen haben sich in 2019 zu „Sicheren Häfen“ erklärt und möchten umgehend unbegleitete Kinder aus den prekären Verhältnissen in den Flüchtlingscamps in Griechenland aufnehmen. Das ist eine gewaltige Herausforderung, zumal die Corona-Pandemie auch in diesem Kontext Akzente setzen wird. Die voraussichtlichen Verständigungsprobleme mit den Kindern bzw. der Bedarf an Übersetzer*innen läuft als Standardhinweis des RTG  auch bei diesem Vorhaben mit.

Was er vorhat …

3. Geplant: Neuer Themenschwerpunkt: Die Geflüchteten, das Corona-Virus und andere Epidemien

Die Ausbruch der covid-19-Epidemie in Deutschland im Februar 2020 zog die Bekanntgabe allgemeiner Hygienemaßnahmen und Verfahrensregeln und damit verbunden die Durchsetzungspflicht der Behörden nach sich, selbstverständlich auch zur Seite der Geflüchteten hin. Das Landratsamt Tübingen und die Stadt Tübingen erstellten Corona-Info-Blätter in Deutsch und Englisch, aber auch in Dari und Arabisch für Geflüchtete aus dem Mittleren Osten, die u.a. die lokalen Notrufe enthielten. Geflüchtete aus afrikanischen Herkunftsgebieten wurden bestenfalls durch die englische Version erreicht, wobei nach Erfahrung der Ehrenamtlichen solide Englischkenntnisse bei Geflüchteten aus Afrika nicht grundsätzlich vorausgesetzt werden können. In diesem Punkt wäre mehr Aufmerksamkeit für die Belange der Eritreer, Somali, Gambier und francophonen Gruppen extrem hilfreich gewesen. Dass zahlreiche  Flüchtlingsgruppen mit Corona-Basis-Informationen in ihren Sprachen versorgt werden können, zeigt der Blick ins Internet, aber mit diesem Argument hätte es auch nicht des Info-Blattes für die Geflüchteten aus arabischsprachigen Ländern bedurft. Auch an diesem kleinen Beispiel zeigt deutlich, wen man hier als Geflüchteten auf dem Schirm hat und wen nicht.

Vorbereitungen für eine zweite Aufklärungsmaßnahme, z. B. die Bekanntgabe der Maskenpflicht in Geschäften und im ÖPNV (gültig ab 27.04.2020) mit Hinweisen auf die Verkaufsstellen, und dies mit entsprechenden Übersetzungen, ist dem RTG bis 29.04.2020 nicht bekannt geworden. Alles in allem macht das zurückhaltende Kommunikationsmanagement der Behörden nicht nur bei der Übersetzung wichtiger Informationen ratlos. Auch die Stammbevölkerung wurde seitens der Medien höchst unzureichend über die Verkaufsstellen der Masken informiert. Im Interesse der Geflüchteten in ihrer allgemein angespannten wirtschaftlichen Lage, in der derzeit möglicherweise verzweifelten finanziellen Situation, fehlt ein Hinweis auf Sonderpreise beim Kauf der Masken. Mindestens 10 Euro pro Maske ist viel Geld, und ein Exemplar pro Person reicht wegen des häufigen Reinigungsbedarfs nicht aus.

Aktuell ist ein neues und umfangreiches Merkblatt für den Fall einer Erkrankung an Covid-19 vom Landratsamt entwickelt worden. Es liegt dem RTG vor. Leider ist es für Geflüchtete aus Afrika wiederum bestenfalls in englischer Sprache nutzbar.

Covid-19 und die Wohnsituation der Geflüchteten

Aus der sich stark ausbreitenden Covid-19-Infektion, aus Kurzarbeit, aus dem Verweis der Bevölkerung auf den häuslichen Bereich und aus dem von den Schulen mehr oder weniger differenziert durchgeführten homeschooling sowie aus der Schließung der Kindergärten und Kitas können auch in Flüchtlingsfamilien Probleme entstehen, die generell zu beobachten sind: z. B. der Ausbruch häuslicher Gewalt oder der übermäßige Medienkonsum der Kinder aufgrund eingeschränkter sozialer Kontakte mit Gleichaltrigen; von Kurzarbeit Betroffene können in wirtschaftliche Nöte und Verzweiflung geraten, Kinder vermissen die Spielgefährten, die Mütter müssen ständig die Wogen glätten. Solche Belastungen können vor allem dann eskalieren, wenn die Betreffenden in privaten, häufig beengten Mietverhältnissen wohnen und z. B. wegen Verdienstausfall und Mietrückständen unter Druck geraten. Da sich auch viele ehrenamtliche Unterstützer*innen ins Private zurückgezogen haben und die Beratungsstellen geschlossen sind, entfällt auch jede Unterstützung der Geflüchteten im Hinblick auf Ämterkontakte. Falls es zu häuslichen Gewaltausbrüchen kommt, sind vor allem die Kinder die Leidtragenden, bei Deutschen wie bei Ausländern. Der Kinderschutz ist auch in Flüchtlingsfamilien nicht mehr gewährleistet, weil außerhalb der Familien niemand Misshandlungen bemerken und eingreifen kann.

Wegen der im Allgemeinen räumlich beengten Wohnverhältnisse dürfte im Fall einer erkannten Covid-19-Infektion keine Möglichkeit bestehen, die erkrankte Person mit Sicherheitsabstand zur Familie  zu isolieren. Bei allein lebenden Geflüchteten, die ohnehin von Vereinsamung bedroht sind, lässt sich im Erkrankungsfall nur hoffen, dass jemand aus der Community sie mit Nahrungsmitteln versorgt und ggf. den Kontakt zum/zur zuständigen Integrationsmanager*in herstellt. Letzteres setzt allerdings voraus, dass überhaupt  ein Kontakt zum Fachdienst besteht, was bei privat untergebrachten Geflüchteten nicht immer oder nur selten gegeben ist.

Nachfragen von ehrenamtlicher Unterstützerseite löste auch eine Covid-19-Infektion in einer Tübinger Anschlussunterkunft aus. Als dort ein Verdachtsfall positiv diagnostiziert wurde, wurden sofort  alle übrigen 20 Bewohner für 14 Tage in der Unterkunft unter Quarantäne gestellt. Die Unterstützer wiesen das zuständige Landratsamt darauf hin, dass die Mehrfachbelegung der relativ kleinen Zimmer und die Nutzung der Gemeinschaftsküche und des -sanitärraumes im hohen Maße ansteckungsförderlich sei, so dass für die noch nicht von Covid-19 Betroffenen eine Quarantänelösung außerhalb der Anschlussunterkunft, möglichst mit Sicherheitsabstand zwischen den Bewohnern, die für die Eindämmung der Infektion effektivere Lösung sei. Die Behörde konnte sich dieser Sichtweise nicht anschließen. Im Übrigen ist bisher nicht bekannt, ob und wie die Lage in der betreffenden Anschlussunterkunft, die schon vor der Corona-Pandemie mehrfach skandalisiert worden war, mit den Geflüchteten angemessen besprochen wurde. Anmerkung: Aufgrund der Obdachlosen-Verordnung gelten grundsätzlich  7qm Wohnfläche pro Person als Untergrenze für vertretbar.  Diese Regelung hätte mit den Infektionsschutzgesetzen in der Tat abgeglichen werden müssen, und zwar schon vor Ausbruch der Corona-Pandemie und nicht nur im Blick auf geflüchtete Menschen; es gab ja auch schon schwere Grippewellen mit einer wesentlich höheren Sterberate als Covid-19 bisher gefordert hat.

Aktueller Hinweis:

Der Runde Tisch Gesundheit bietet aufgrund der aktuellen Umstände zurzeit keine Treffen an. Jenseits von gesundheitsbezogenen Fragen, die sich im Kontext der Pandemie auftun oder sich, wie z. B. die Dolmetscherfrage, krasser darstellen denn je, zeichnet sich für künftige Verabredungen der Bedarf an technischen Unterstützungsmöglichkeiten ab. D. h. Meetings könnten mit Hilfe von Telefon- oder Videokonferenzen oder als Webinare stattfinden. Der RTG hat die Stadt Tübingen inzwischen um passende Fortbildungsangebote gebeten.

Aktualisierung vom 5.7.2020

Trotz vieler seit langem sichtbarer Aufgaben, die der Runde Tisch Gesundheit bearbeiten könnte, wird dessen Arbeit erst einmal nicht weitergehen. Das liegt an der zunehmenden Überlastung der hauptamtlichen Kolleg*innen, die ihn über fast 5 Jahre hinweg getragen haben. Die Corona-Krise hat viel verändert.

Falls sich die gesundheitliche Gesamtsituation, mit der wir alle in Zukunft zurechtkommen müssen, stabilisiert und keine zweite Infektionswelle im Entstehen begriffen ist, stellt sich die Frage der Weiterarbeit dieses Treffpunkts möglicherweise neu. Die Koordination müsste dann aber auch neu geregelt werden.

Die Kosten der Krise werden zur Verteilung anstehen. Die ganze Gesellschaft wird sich auf Härten ungeahnten Ausmaßes einstellen müssen, vor allem finanziell. Die Geflüchteten dürften von den Folgen der Pandemie in besonderer Weise betroffen sein. Je nachdem, wie überzeugend der Staat die zu erwartenden Härten durchsetzen und gleichzeitig die Ärmsten vor einer weiteren Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Lage schützen kann, werden diejenigen, die ohnehin in prekären Verhältnissen leben, unter die Räder kommen oder auch nicht. Wird unsere Gesellschaft, unser Staat, ganz allgemein und hinsichtlich der  Geflüchteten im Besonderen noch solidarisch handeln können? Aus der Mitte der Gesellschaft heraus bildet sich bereits ein Wutbürgertum, das ohne erkennbare politische Konzeption nur noch seine eigenen Interessen kennt und zur Durchsetzung bringen will.

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Geleitet wurde die AG durch Monika Petersen.