Im Schatten der Pandemie

Die Folgen der Pandemie, die die Medien jeden Tag mit Blick auf die Stammbevölkerung diskutieren, gelten auch für Geflüchtete und Migrant*innen, allerdings in modifizierter Form; man muss nur hinschauen. Bei genauerem Hinsehen stellen sich dabei sehr spezifische Unterschiede heraus, über die die Medien schnell hinweggehen, um wieder über die Unzufriedenheit der Privilegierten zu berichten. So auch in Tübingen. Da schaffen es ein paar Geflüchtete in die Zeitung, wenn sie ohne Maske in der Altstadt herumlaufen und aus Sicht des OB die Erfolgsstatistik des Tübinger Modells vermiesen. In welcher Weise Migrant*innen und Geflüchtete selber von der Pandemie betroffen sind und wie sie in das allgemeine Krisenmanagement miteinbezogen sind, blieb weitegehend im Dunkeln. Aktuelle Beiträge der ARD, z. B. am 3. Mai 2021, und einige Zeitungsredaktionen machten nun Schluss damit.

In der Region Stuttgart wurden aktuell neun große Krankenhausträger zum Anteil der Migrant*innen auf den Intensivstationen befragt. Ob das UKT dabei war, ist nicht bekannt. Soweit sich jedoch die Kliniken dazu äußern wollten und mit dem Vorbehalt, dass die Patienten weder mit ihren Herkunftsländern noch mit ihrem Aufenthaltsstatus systematisch erfasst würden, liegt deren Einschätzung der Belegungsquote bei bis zu 60 Prozent durch vermutete Migrant*innen. Übereinstimmung herrscht in dem Punkt, dass das Alter der Erkrankten immer weiter nach unten gehe, während der Beatmungsbedarf unmittelbar nach Einlieferung und schwere covid19-Verläufe vergleichsweise zugenommen haben. Zusammengefasst ergibt sich daraus zunächst der fundamentale Befund: Corona hat sich von seinen Anfängen in Deutschland entfernt; nicht die Privilegierten holen es sich beim Skifahren oder auf Geschäftsreisen, sondern die Sozialschwachen aus prekären Arbeits- und Wohnverhältnissen vor Ort, ghettoähnlichen Wohnvierteln und wegen enger Sozialbindung untereinander. Auch der durch Sprachbarrieren erschwerte Zugang zu einschlägigen lokalen Informationen hat Anteil daran. Nachzulesen ist die Berichterstattung über diese Umfrage in der Tagblatt-Ausgabe vom 4. Mai und in anderen überregionalen Tageszeitungen in Baden-Württemberg, die den Artikel an unterschiedlich prominenter Stelle bringen.

An sich ist der Zusammenhang zwischen Gesundheit bzw. Krankheit und dem sozialökonomischen Patientenstatus nichts Neues, denn epidemieähnliche Krankheitsausbrüche wiederholen sich im Laufe der Geschichte genau wie die Klagen über das mangelnde Präventionsbewusstsein in der unteren sozialen Schicht. Schon bei den ersten covid19-Ausbrüchen in 2020 traten entsprechende Warnungen z. B. hinsichtlich der Gemeinschaftsunterkünfte auf, auch aus den Reihen der ehrenamtlichen Flüchtlingsunterstützer*innen. Nur waren alle, die hätten handeln können, entweder abgelenkt oder durch die Dimensionen der Pandemie und ihre schrecklichen Folgen überfordert und schließlich desinteressiert. Wie kann es eigentlich angehen, dass in der Landeserstaufnahmestelle an der Wilhelm-Keil-Straße im März 2021 eine Masseninfektion auftrat, die, wie es inzwischen heißt, von außen, das heißt: durch das Personal, hineingetragen worden sein muss? Wurde das Personal nicht regelmäßig alle zwei Tage getestet oder wurde die Testung vielleicht aus finanziellen Gründen verhindert? Und wurden die Bewohnerinnen eigentlich in ihren Herkunftssprachen über die laufende Entwicklung informiert? Und wie lange schon gibt es die Hinweise auf die katastrophalen Wohnverhältnisse in Weilheim, wo es ebenfalls zu covid19-Ausbrüchen kam?

Was zur wachsenden covid19-Inzidenz von Geflüchteten noch hinzukommt und sie von der Stammbevölkerung unterscheidet, ist die schleichende Begleitpandemie: Covid19 verstärkt die Traumabelastung der Geflüchteten.

Hierüber referierte kürzlich das Institut für Transkulturelle Gesundheit Villingen-Schwenningen zusammen mit der Mediclin–Klinik Donaueschingen im Rahmen eines Webinars. Die Mediclin-Klinik ist auf präventive Rehabilitationsbehandlungen von Patienten mit psychosomatischen Krankheitsbildern spezialisiert und nimmt auch geflüchtete Patienten mit posttraumatischen Belastungsstörungen auf. Die Vorträge richteten den Blick aber auch auf die Situation in den großen Flüchtlingslagern vor den Toren Europas, wie z. B. in Moria.

Aus dem Einladungstext des Instituts für Transkulturelle Gesundheit:

Die COVID-19 Pandemie und ihre Konsequenzen verschärfen sich von Tag zu Tag. Viele Menschen haben große Angst, sich oder andere zu infizieren und nicht ausreichend medizinisch behandelt werden zu können. Auf besondere Weise betroffen sind geflüchtete Menschen in Flüchtlingscamps (wie z.B. im Irak und Syrien), in Camps an den europäischen Außengrenzen, aber auch in Unterkünften hier vor Ort. Vielfältige Stressoren und geringe Betreuungs- und Behandlungsmöglichkeit verstärken die oftmals traumatischen Fluchterlebnisse der Betroffenen. Symptome und Krankheitsverläufe – gerade in Bezug auf psychische Erkrankungen – können unter diesen Umständen verstärkt werden. In Zeiten großer Unsicherheit und Angst, in denen darüber hinaus die Gesundheitsversorgung an ihre Grenzen stößt, ist es notwendig, die prekäre Lebenssituation Geflüchteter (Reduzierung von Angeboten, Unterbringung in Massenunterkünften, unsicherer Aufenthalt, räumliche Enge, Verstärkung von Traumafolgestörungen etc.) zu beachten.“

Abgesehen von einem überaus bedrückenden Situationsbericht mit Live-Einspielung aus Moria kreisten die wissenschaftlich fundierten Referate des Webinars um die Folgen der Pandemie für die Integration der Geflüchteten hier bei uns. Festzuhalten ist: Die Erfahrung von Arbeitsplatzverlust einschließlich erschwerter Arbeitssuche, in vielen Fällen prekärer Arbeitsverhältnisse und schlechter Wohnbedingungen sowie fehlender Feste und Begegnungsmöglichkeiten teilen Geflüchtete mit der (sozialschwachen) Stammbevölkerung. Flüchtlingsspezifische Stressoren sind Sprachbarrieren, das durch fehlenden Internetzugang bedingte mangelnde online-Lernangebot, der erschwerte Zugang zu lokalen (Corona-)Informationen und immer wieder Desinformationen über die Rolle der Migrant*innen und Geflüchteten bei der Ausbreitung der Pandemie einschließlich rassistischer Äußerungen. Dies alles führt zu einem zumindest subjektiv empfundenen Perspektivverlust und gefährdet die Integration von Menschen, die bei uns Schutz und eine Zukunft gesucht haben.

Im Schatten der Pandemie können sich traumatische Belastungen verstärken und eskalieren. Unverständlicherweise sind zumindest in der Mediclin – Klinik in Donaueschingen die stationären Aufnahmeplätze nicht voll belegt, weil die einzuhaltenden Verwaltungswege erschwert sind. Der ambulante Kontakt zu gefährdeten Patient*innen ist jedoch nur schwer aufrecht zu erhalten, genau wie die allgemeine Krisenkommunikation mit Geflüchteten im öffentlichen Leben. Geflüchtete drohen weiterhin und gerade unter Corona-Bedingungen als Belastung der gesellschaftlichen Ressourcen hingestellt und behandelt zu werden. Und Menschenrechte werden einseitig geltend gemacht.

04. Mai 2021

Monika Petersen